Dieter Reiter – Menschen, München und Musik

Dieter Reiter, Münchens Oberbürgermeister im Gespräch über Musik, Tradition und kulturelle Vielfalt.
Dieter Reiter, Münchner Oberbürgermeister
Dieter Reiter, Münchner Oberbürgermeister und leidenschaftlicher Musiker.

Wenn die Sonne vom bayrischen Himmel scheint, wird es im Büro von Dieter Reiter sehr warm. Mit großen Fensterfronten und direktem Blick auf den berühmten Marienplatz dennoch nicht der schlechteste Arbeitsplatz in der Weltstadt mit Herz. Für das Interview darf das Sakko aus, für die Fotos wird es natürlich wieder angezogen. Dieter Reiter ist ein offener, lässiger und geradliniger Gesprächspartner, er erzählt mit bayrischer Direktheit von seiner trockenen Ausbildung, seinem jugendlichen Wunsch, Rockstar zu werden und warum er ein entschiedener Gegner politischer Unentschlossenheit ist. Warum sein starkes Bekenntnis für kulturelle Vielfalt nicht im Widerspruch zu Tradition und Heimatbegriff steht. Musik, so erzählt er, ist ein unverzichtbarer Teil seines Lebens geworden. Und irgendwie ist der Oberbürgermeister für seine Münchnerinnen und Münchner ein bisschen beides: Regierungschef und Rockstar. In München ist eben vieles möglich.

Herzlich Willkommen Dieter Reiter, Oberbürgermeister von München, bei Stadtlocke, dem Onlinemagazin für Kultur, Menschen und Stadtgeflüster. Wir freuen uns sehr, dass Sie sich, trotz Ihres intensiven Arbeitspensums, Zeit für uns nehmen. Unsere Leserinnen und Leser sind im ganzen deutschsprachigen Raum verteilt – wenn Sie die jetzt alle nach München herzlich einladen würden, wie würden Sie ihnen unsere schöne Stadt schmackhaft machen? Was ist für Sie das Besondere an München und was würden Sie ihnen sagen, warum man unbedingt bei uns vorbeischauen sollte?

Da schlagen mir als Oberbürgermeister zwei Herzen in der Brust, da meine Münchnerinnen und Münchner oft der Ansicht sind, es sei eh zu viel los in dieser Stadt. Aber Gäste, die kommen und wieder gehen sind herzlich willkommen. (lacht) Aber jetzt im Ernst, natürlich bietet München alles, was man von einer Großstadt im Herzen von Europa erwarten kann: Wir haben Kunst, Kultur, eine hohe Aufenthaltsqualität, wir haben die Berge und Seen in schier unglaublicher Nähe – da ist für jeden etwas dabei. Man kann innerhalb einer Autostunde sowohl ins Skigebiet als auch an den Badesee fahren, also perfekte Rahmenbedingungen. Und wir haben in dieser Stadt ein sehr gutes gesellschaftliches Klima, das heißt, jeder kann sich hier willkommen fühlen und ist auch willkommen. Wir haben auch letztes Jahr wieder einen Tourismusrekord gehabt, es wurden so viele Übernachtungen wie noch nie registriert und diese Tendenz ist ungebrochen. Wie heißt es so schön: Wir sind die nördlichste Stadt Italiens und wir versuchen, dieses Flair, das die Italiener mitbringen, nämlich leben und leben lassen, auch wirklich zu antizipieren und umzusetzen. Jeder, der mal in einem Münchner Biergarten gesessen hat, sei es als Gast aus dem Ausland oder auch aus deutschen Städten, der versteht einfach den Unterschied zwischen dem Münchner Lebensgefühl und anderen Städten. Was natürlich nicht bedeutet, dass es in anderen Städten nicht auch schön ist. 

Wenn ich richtig informiert bin – und das freut natürlich unsere Leserschaft aus dem hohen Norden – dann verbringen Sie Ihren Urlaub immer gerne in Norddeutschland. Das ist ein krasser Kontrast zum oberbayrischen Hinterland, also quasi wie die zwei Enden der Weißwurscht. Hilft Ihnen diese Ödnis an der Küste beim Abschalten? Ich hoffe, die Nordlichter sind mir nicht böse…

Da wäre ich mir jetzt nicht so sicher…(lacht). Ich mag einfach die Strände, ich bin viele Jahre mit meiner Familie in St. Peter Ording gewesen. Das ist einfach nicht zu vergleichen mit so manch hektischem Treiben im Süden Europas. Die Strände sind kilometerbreit und man kann tatsächlich sich ein bisschen separieren mit seiner Familie, was in meiner Funktion als Oberbürgermeister gar nicht so unwichtig ist. Man wird nicht sofort von Menschen umzingelt, die einem dringend sagen müssen, was sie schon immer mal sagen wollten. Ein gewisses Maß an Einsamkeit ist dort oben einfach besser gegeben als hier in München oder auch am Gardasee oder Tegernsee. Da würde ich mich wie in München fühlen, weil mich auch dort ganz viele Menschen kennen. Aber an der Nord- oder Ostsee ist es etwas völlig anderes, auch das Klima liebe ich, es ist ein Kontrast zu hier. Früher bin ich immer in den heißen Süden geflogen, mittlerweile finde ich 22° richtig angenehm und es ist ein entspanntes Gefühl, mit der Familie dort zu sein. Ich bin auch gerne in Hamburg, eine sehr schöne Stadt, fast so schön wie München… 

Aber nur fast…

…natürlich. Aber man muss es sagen: der Norden hat seine Reize. 

Sie haben an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege studiert und Ihren Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt gemacht. Für mich als kreativen Menschen klingt das jetzt eher sehr trocken…

Es ist trocken. (lacht)

Was hat sie an dieser Ausbildung gereizt und inwieweit hat es Ihnen in Ihrer Funktion als Münchner Oberbürgermeister geholfen?

Also gereizt hat mich damals eher gar nichts. Es war schlicht unseren familiären Verhältnissen geschuldet: Mein Vater war Alleinverdiener, wir waren zu sechst daheim, meine zwei Brüder, meine Großmutter und meine Mama. Mein Vater hat im mittleren Dienst bei der Stadt gearbeitet und wir waren nicht mit Reichtum gesegnet. Da waren alle froh, dass ein Sohn weniger auf der Payroll war. Und nachdem mein Vater im öffentlichen Dienst war, ist es klassisch generationenübergreifend auf mich übergegangen, so nach dem Motto „Sohn, jetzt gehst du auch zur Stadt.“ Mich haben mit 18 Jahren definitiv andere Dinge interessiert. Als Berufsziel stand da eher Profifußballer oder Rockstar an, das hätte mir viel mehr Spaß gemacht, aber das stand leider nicht auf der Agenda. Rückblickend hingegen muss ich sagen, dass ich meine Berufswahl nicht bereut habe, denn in meiner aktuellen Beschäftigung haben mir natürlich die Insider-Kenntnisse zum Thema Verwaltung, Wirtschaft und Finanzen sehr geholfen. Auch später in meiner Anstellung bei der Stadtkämmerei, also im Finanzdezernat war mir meine Ausbildung sehr hilfreich, da die Ausbildung in München sehr gut und grundlegend ist. Ich habe jetzt das Glück, seit fünfzehn Jahren nicht mehr allein in der Verwaltung zu arbeiten, sondern Politik machen zu dürfen. Aber wie gesagt: als junger Mann waren weder Verwaltungsbeamter noch Oberbürgermeister meine Wunschberufswahl. 

Gäbe es heute einen Berufswunsch, für den Sie sich definitiv entscheiden würden? Denn Rockstar konnte und kann man nirgendwo lernen…

Ich hätte natürlich Musik studieren können. Das hätte mich mehr interessiert als die dröge Verwaltungswissenschaft. Aber wenn ich das meinen Eltern erzählt hätte – die hätten ihre Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ihren Sohn, völlig verarmt, als Musiker in der Fußgängerzone mit dem offenen Gitarrenkoffer gesehen. Andererseits muss ich zugeben, dass ich auch nie jemand gewesen bin, der gerne von der Hand in den Mund gelebt hat, sondern immer einen Plan in der Tasche haben mag. Insofern ist das Beamtentum auch prägend für mich gewesen. Ich war und bin niemand, der in den Tag hineinlebt, sondern ich habe gerne einen Plan für die nächsten Wochen und Monate, eine Struktur. Außerdem muss man auch sagen, dass zu der Zeit, als ich ein junger Mensch war, was ja nun ganz schön lang her ist, gab es nicht diese Alternativen wie heute, kein „ich mach mal ein Sabbatical“ oder „ich bleib’ nach der Schule erstmal zwei Jahre daheim und orientiere mich“. Wir mussten schnell schauen, wie wir uns selbst durchbringen. Das Studium an der Beamtenfachhochschule hat auch den Vorteil, dass man alimentiert wird, das ist etwas anderes, als an einer normalen Uni zu studieren. Insofern war es damals die richtige Entscheidung. Aber ich bin auch froh, dass ich nicht mein ganzes Leben Verwaltungsbeamter bleiben musste. Ich hatte auch das Glück, dass ich immer befördert worden bin, mich weiterentwickeln konnte und mich dann stark auf den Finanzbereich fokussiert habe. Genauso froh war ich aber auch, als ich das Thema wechseln konnte. Und tatsächlich sind die Finanzen etwas, mit dem ich mich auch in meiner Funktion als Oberbürgermeister beschäftigen darf. 

Sie sind als Oberbürgermeister Dienstherr und Chef, gleichzeitig erwartet die Münchner Bevölkerung, dass sie auch volksnah, nahbar sind. Empfinden Sie das als Spagat?

Überhaupt nicht. Meine Beschäftigten sind ja das Volk. Ich habe es heute erst wieder gesagt: die Stadt München hat 43.000 Beschäftigte, weitere 25.000 Beschäftigte in unseren hundertprozentigen Tochtergesellschaften, also knapp 70.000 Menschen, die mich als ihren „Chef“ bezeichnen. Volksnähe ist etwas, das man nicht studieren kann. Entweder man mag die Menschen und geht gerne auf sie zu oder eben nicht. Und die Leute merken das ziemlich schnell, wenn Freundlichkeit und Empathie nur aufgesetzt sind. Wenn ich durch die Fußgängerzone gehe, sprechen mich alle auf alles an: ob der Papierkorb zu voll ist oder der Gullydeckel nicht richtig sitzt. Das ist eben gelebte Volksnähe und ich habe auch nicht das Gefühl, dass mich das Amt verändert hat. Ich ziehe den Hut vor meinen jungen Kolleginnen und Kollegen, die in so einem Amt, welches sich von anderen Ämtern doch ein bisschen differenziert, einen guten Job machen und nicht abheben. Das wäre bei mir in diesen jungen Jahren vielleicht anders gewesen. Jetzt in meinem gesetzteren Alter ist es einfacher, Bodenhaftung zu behalten. 

In Ihrer Amtszeit mussten Sie einige Krisen bewältigen: die Flüchtlingskrise, Corona – Situationen, die vorher noch nie in diesem Ausmaß existierten und für die es keine Blaupause gab. Jetzt haben wir die Energiekrise, den Ukrainekrieg, der uns belastet. Gibt es eine besondere mentale Stärke, die Sie auch uns mitgeben können, wie man mit Krisen umgeht und sich nicht aus dem Sattel heben lässt?

Ich habe tatsächlich in meinen 10 Jahren Amtszeit kaum eine krisenfreie Zeit erlebt. Es begann mit den Flüchtlingen, aktuell haben wir wieder mit Flüchtlingen aus der Ukraine zu tun, Corona hat uns vor eine Gesundheitskrise gestellt, die wir uns vorher nicht einmal ausmalen konnten. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sind alles Themen, mit denen wir uns befassen müssen. Ich bin im Grunde ein sehr gelassener Mensch und man kann mich nicht so leicht aufregen, zumindest nach außen hin lasse ich es mir nicht anmerken. Aber auf Ihre Frage zurückzukommen: ich versuche vor allem klare Entscheidungen zu treffen. Was mich am meisten an manchen meiner politischen Kollegen stört, wenn sie keine Entscheidungen treffen, versuchen, den Ball immer wieder zurückzuspielen, weil sie Sorge haben, nicht zu 100% die richtige Entscheidung zu treffen und man dann sicherheitshalber gar nichts macht. Das ist etwas, was in meinen Augen im Wesentlichen zur aktuellen Politikverdrossenheit beiträgt. Aber es gibt keine absolute Sicherheit. Ich habe zu Beginn meiner Amtszeit ein Schlüsselerlebnis gehabt, ich habe eine Flüchtlingsunterkunft in München einfach geschlossen, weil sie überfüllt war und die Zustände dort nicht zumutbar waren, eine humanitäre Katastrophe. Ich bin dafür weder zuständig noch verantwortlich, ich durfte es gar nicht beschließen. Aber ich fühlte mich für die Menschen verantwortlich. Wir saßen mit Juristinnen und Juristen zusammen, die mir gesagt haben, dass ich das nicht dürfe. Und am nächsten Tag rief der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer an und ich erwartete eigentlich einen Anpfiff – aber er meinte „Gut gemacht!“. Ich will damit deutlich machen, dass es manchmal hilft, nicht zu verkopft zu denken, sondern einfach aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Dabei ist eine gewisse Lebenserfahrung hilfreich. Aber aus meiner Sicht ist es das Allerschlechteste für Politiker alles hin und her zu schieben, andere Verantwortliche zu finden für das eigene Unvermögen, anstatt klare Entscheidungen zu treffen. Daran krankt unsere aktuelle Bundesregierung, diese Dreierkonstellation führt einfach dazu, dass man sich gegenseitig blockiert. Es wird nie der Eindruck erweckt, dass eine gemeinsame Regierung besteht, sondern eher zwei gegen einen oder einer gegen zwei. Dadurch ist es für die Bürgerinnen und Bürger auch schwer verständlich, die Regierung zu unterstützen, wenn am Ende immer Sachen herauskommen, die man gar nicht will oder im schlimmsten Fall passiert gar nichts. Die paar Dinge, die man dann tatsächlich auf den Weg gebracht hat, geraten schlussendlich völlig in den Hintergrund. Meines Erachtens gehört es zu einem Politiker dazu, sein Mandat auszuüben. Ich werde mich demnächst auch intensiver zu dem Thema Bürgerbeteiligung äußern. Es ist die neue Floskel vieler politischer Kolleginnen und Kollegen, zu sagen, das müssen dann die Bürger entscheiden, wenn sie selbst nicht willens sind, Entschlüsse zu treffen. Ich habe parlamentarische Demokratie so verstanden, dass die Bürgerinnen und Bürger Vertreter wählen, die dann in ihrem Sinne entscheiden sollen. Wenn die dann allerdings dauernd Mist entscheiden, dann werden sie halt das nächste Mal nicht wieder gewählt. Aber inzwischen schon triviale Themen auf den Bürger zur Entscheidung abzuwälzen, finde ich unverständlich. Das Schöne an der Demokratie ist doch, wenn du dauernd gegen den Bürgerwillen entscheidest, bekommst du nach sechs Jahren deine Quittung und wirst nicht mehr ins Amt gesetzt. Ebenso ist eine Marotte von einigen Kolleginnen und Kollegen, nie Fehler zugeben zu dürfen, immer einen perfekten Status abgeben zu müssen. So wollte ich mein Amt nie ausüben, sondern immer authentisch sein. Die Menschen verstehen es, wenn man eine falsche Entscheidung zugibt. Das sollte man nicht jede zweite Woche tun müssen, aber drei Mal in zehn Jahren ist menschlich. Und den Umfrageergebnissen zufolge mache ich das ganz ordentlich und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger. 

Gibt es etwas, auf das Sie besonders stolz sind in Ihrer Amtszeit?

Stolz ist ein Wort, das ich ganz selten in Bezug auf meine Arbeit verwende. Ich mache meinen Job und den mache ich sehr gerne. Stolz bin ich auf die Bevölkerung, stolz bin ich darauf, dass so viele Menschen sich in dieser Stadt im Ehrenamt engagieren. Wir könnten die Stadt gar nicht am Laufen halten ohne die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Jede zweite Münchnerin, jeder zweite Münchner engagiert sich in einem Ehrenamt, sei es das Vorlesen in der Bibliothek oder Schulweghelferinnen und -helfer – ich bin stolz darauf, wie die Bürgerinnen und Bürger sich einbringen. Auch ganz aktuell: die großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, für Demokratie, das zeigt mir, dass die Münchnerinnen und Münchner zusammenstehen, wenn es hart auf hart kommt. Da bin ich stolz auf die Stadtgesellschaft. Und ich muss dann auch nicht auf der Bühne stehen und Reden halten, ich bin einfach dabei. Ich brauche keine Denkmäler, die an meine Taten erinnern. Ich mache meinen Job einfach gerne. 

Sie sind nicht nur der Münchner Oberbürgermeister, sondern auch Chef der Wiesn. Böse Zungen behaupten, das ist ein zweiwöchiges Dauerbesäufnis – was ist für Sie das Schöne an der Wiesn?

Ich habe vor meiner Zeit als Oberbürgermeister fünf Jahre als Wirtschaftsdezernent Verantwortung für die Wiesn getragen und schon in dieser Zeit habe ich gelernt, auf wie vielen Ebenen das Oktoberfest wichtig ist für München. Es ist das größte Volksfest der Welt und andere Städte würden sich darum reißen, so eine Veranstaltung abhalten zu können und zu dürfen, insofern darf man es nicht so desavouieren, wie es manchmal getan wird. Allein die riesigen Umwegrenditen für die Münchner Wirtschaft sind von großer Bedeutung. Aber natürlich hat das Oktoberfest auch Schattenseiten. Insbesondere für die Anwohnerinnen und Anwohner der Theresienwiese – die finden das nur bedingt lustig, was sich da 16 Tage lang auf der Wiesn abspielt. Ich finde es nach wie vor eine wunderbare Pflicht als Münchner Oberbürgermeister dort anzuzapfen. Das ist immer ein Moment persönlicher Anspannung, auch nach zehn Jahren, denn wenn man einmal zu viel auf den Wechsel draufhaut, dann gibt es zwei Tage in allen Münchner Medien Diskussionen – egal, was weltweit gerade passiert. Aber es ist eine angenehme Verpflichtung. Besonders glücklich bin ich immer, wenn die Wiesn ohne schlimme Zwischenfälle stattgefunden hat, auch Rekorde sind für mich nicht von Bedeutung, also wie viele Hendl gegessen wurden oder wie viele Besucher vor Ort waren, sondern dass das Oktoberfest friedlich von statten geht. Das ist für mich das Wichtigste.

Sie sind leidenschaftlicher Musiker, spielen aktuell in zwei Bands. Haben Sie noch Zeit dafür?

Ich nehme mir die Zeit zum Spielen, habe aber zu wenig Zeit fürs Üben. Ich bin bei meinen Auftritten auch relativ selbstkritisch, wenngleich die Zuschauerinnen und Zuschauer immer sehr großzügig mit Lob für ihren Oberbürgermeister sind. Ich denke, bei anderen Künstlern wären sie wahrscheinlich kritischer, aber sie finden es offensichtlich alle ganz unterhaltsam, dass ich da oben stehe und Musik mache.

Aber Sie haben keinen Hut aufgestellt, wo die Leute Münzen reinwerfen können?

Nein. (lacht) Wenn´s dem Publikum gefällt, dann applaudieren sie und wenn nicht, dann müssen die Leute zumindest nichts bei meinen Auftritten bezahlen. Neben meiner Familie und der Arbeit ist Musik das Wichtigste in meinem Leben. Mir fehlt ein wenig die Zeit zum Üben, habe aber im Nebenzimmer zwei Gitarren stehen, auf denen ich ab und zu für mich spiele und übe. Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, dass ich mich in den zehn Jahren der Amtszeit musikalisch weiterentwickelt habe – es macht wahnsinnig Spaß auf der Bühne zu stehen und eine gute Performance abzuliefern. Ich habe hier im Büro ein Bild hängen, wo ich vor 35.000 Leuten bei einer Demonstration spielen durfte, zusammen mit Dreiviertelblut und z.B. Herbert Grönemeyer und ein paar anderen bedeutenden Musikern. Ein sehr besonderes Erlebnis. 

Eine der beiden Bands, in der Sie spielen, ist eher Irish-Folk-lastig – ist das Ihre bevorzugte Musikrichtung? Oder darf´s auch mal Elektro sein?

Ich habe mich tatsächlich mit einer irischen Folk Band zusammengeschlossen, aber ich mag auch die etwas punkigere Richtung des Irish Folk, wie z. B. Dropkick Murphys. Elektro ist definitiv nicht meins. Auf der Bühne spielen wir gerne Credence Clearwater Revival oder die Dire Straits, das sind so meine Gassenhauer. Als Zugabe gibt es gerne „Let it be“ von den Beatles. Wir wollen das Publikum mitnehmen und wenn du dann „Country Roads“ spielst, können Tausende mitsingen, weil den Song alle von der Wiesn her kennen. 

Aber den Wiesn-Klassiker „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens haben Sie noch nicht gespielt?

Deutsche Schlager sind nicht so meins, ganz ehrlich gesagt. Ich bin auch kein Operngänger, wie ich bekennen muss. Ich muss regelmäßig in Radiosendungen die Frage beantworten, ob ich zu einem Helene Fischer Konzert gehen würde, was ich immer dankend verneine. Wenn ich deutschsprachige Musik höre, dann gerne die Österreicher wie Ludwig Hirsch oder Wolfgang Ambros, in dessen Konzert ich demnächst wieder gehe. Reinhard Mey, Herbert Grönemeyer, das ist eher meins, aber nicht deutsche Schlager. 

Eine Frage, die ich unseren Gesprächspartnerinnen und -partnern immer sehr gerne stelle, ist die nach ihren persönlichen Werten. Gibt es bestimmte Werte, die die Grundlage Ihres Handelns bilden?

Viele Werte haben wir schon in diesem Gespräch angesprochen. In meinem Job als Oberbürgermeister ist es mir wichtig, dass München eine liberale, weltoffene Stadt ist. Wir haben damit nur positive Erfahrungen gemacht. Für mich persönlich sind die Themen Verlässlichkeit und Vertrauen zentrale Werte. Ehrlichkeit und Transparenz gehören auch dazu. Sich aufeinander verlassen können. Eine meiner zentralen Aufgaben als Politiker sehe ich darin, dafür zu sorgen, dass sich alle Menschen diese Stadt leisten können, gerade auch diejenigen, die hier geboren sind und schon jahrzehntelang leben. Dazu machen wir Sozialpolitik und es braucht eine grundlegende Bildungspolitik. 

Gibt es bestimmte Rituale, die Sie in Ihrem Leben als wichtig erachten? Zum Beispiel wie Sie in Ihren Tag starten? Marianne Wille zum Beispiel dehnt sich ausgiebig und trinkt Zitronenwasser.

Trinkt sie nicht Kaffee?

Frau Wille ist da sehr resolut und wirkte auch sehr gesund auf uns. 

Ich fange meinen Tag damit an, dass ich nicht aufstehen mag.

Also sind Sie Eule und nicht Lerche?

Nix früher Vogel. (lacht) Ich bin froh, wenn ich ein paar Minuten länger liegen bleiben kann. Mein Orthopäde hat mir auch geraten, morgens zehn Minuten Gymnastik zu machen. Da sage ich nur: danke für den Hinweis hat mir sehr geholfen, bringt mich nur nicht weiter. Ich bin tatsächlich morgen relativ unausstehlich, ich brauche meine Ruhe, meine Frau kennt das seit dreißig Jahren. Wir trinken Kaffee zusammen, schauen in die Zeitung, unterhalten uns ein bisschen. Wenn man ein Ritual nennen will, dann dass ich in der Früh meine Ruhe haben will. Denn wenn ich zur Tür hinausgehe, geht es los, von Null auf Hundert. 

Gibt es Auszeiten im täglichen Geschehen, die Sie sich nehmen können?

Ich nehme mir schon meine Zeit, wenn ich sie brauche oder glaube, sie haben zu müssen. Es gibt Termine, die ich machen muss, weil sie einfach zum Amt des Oberbürgermeisters gehören. Beispielsweise darf ich Stadtratssitzungen und Aufsichtsratssitzungen leiten oder beiwohnen, aber ich kann natürlich nicht jedem Einladungswunsch nachkommen. Mit den Jahren bekommt man auch gewisse Erfahrungswerte, wann man eine Auszeit braucht und wann nicht. 

Meine ursprüngliche Frage, ob Sie sich auf den Ruhestand freuen, habe ich wieder verworfen, denn Sie möchten ja noch einmal kandidieren. Aber ich würde Ihnen gerne eine andere Frage stellen im Zusammenhang mit einer Aussage, die mich persönlich sehr befremdet hat. Der Tech Millionär Brain Johnson hat letztens in einem Interview gesagt, der Tod sei ein technisches Problem, dass sich lösen ließe. Darauf arbeitet er auch hin. Halten Sie Unsterblichkeit für erstrebenswert?

Klipp und klar: nein. Die Vorstellung, dass der Alterungsprozess fortschreitet, aber man nicht sterben darf, finde ich nicht erstrebenswert. Auch wenn man immer 30 Jahre alt bleiben dürfte, erscheint es mir nicht besonders verlockend. Da wir vorhin bei Ritualen waren: wenn ich morgen aufstehe und es zwickt nicht irgendwo, dann ist es ein komischer Tag. Und ich bin einfach dankbar, dass es dann nichts von Bedeutung ist. Ich stelle fest, dass man mit den Jahren ein bisschen klüger und ruhiger wird. 

Also ist leben und leben lassen – die berühmte bayrische Lebensart – auch Ihr Motto?

Unbedingt. Es geht uns allen doch verhältnismäßig gut. Ich sage immer: die Stimmung ist schlechter als die Lage. Das versuche ich den Menschen auch immer wieder deutlich zu machen. Ich habe ständigen Kontakt nach Kiew, ich werde unmittelbar in den Nahostkonflikt eingebunden – da jammern Sie nicht mehr, weil ein Aschenbecher nicht korrekt geleert wurde. Es gibt in München sicherlich Menschen, denen es nicht gut geht, aber wenn man die Sorgen der Menschen in den genannten Krisengebieten mitbekommt, dann erscheinen stundenlange Diskussionen darüber, ob der neue Königshof (Hotel am Stachus, Anm. der Redaktion) schöner als der alte ist, völlig übertrieben. Diese Energie in konkrete Hilfe für konkrete Menschen zu stecken, wäre wesentlich hilfreicher als jede Sau, wie man auf gut Bayerisch sagt, durchs Dorf zu treiben. Ein bisschen positivere Weltanschauung, positiveres Gedankengut ist deutlich produktiver als dieser – noch aus der Corona-Zeit gebliebene – Griesgram und Missmut.

Bewegt man sich ein bisschen außerhalb Münchens, dann begegne ich schnell der Meinung, München und Bayern seien vom Denken und Empfinden eher konservativ und rückständig. Ich habe mir nochmal Zahlen von 2021 angeschaut, welche aufzeigen, dass ein Drittel aller Münchner Ausländer ist. Ich persönlich finde es in dieser Stadt als bereichernd, dass Menschen aus aller Herren Länder kommen und friedlich miteinander leben. So sollte München doch eigentlich wahrgenommen werden, oder?

Konservativ zu sein, ist hierbei für mich kein Widerspruch. Ich halte mich strukturell auch für konservativ, weil ich bestimmte Werte und Traditionen damit in Verbindung bringe. Und das hat auch nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Da ich vorhin bereits einen Pressetermin hatte, indem es u.a. um dieses Thema ging, kann ich die aktuellen Zahlen nennen: 60% der unter 18-jährigen in München haben mit ihren Familien einen Migrationshintergrund und, wie Sie richtig sagen, ein Drittel aller Münchner haben keinen deutschen Pass. Wir sind eine der beliebtesten Städte, wenn nicht die beliebteste Stadt Deutschlands und wir haben mit diesem bunten Stadtgefühl immer gewonnen. Wir haben heute bei der Stadtverwaltung 116 verschiedene Nationalitäten – das hat uns nur geholfen. Die Preise in München sind leider die höchsten in Deutschland, bedingt dadurch, dass die Menschen hier leben wollen, große Unternehmen sich hier niederlassen. Das sind klare Indizien dafür, dass wir von dieser Pluralität profitiert haben. Ich kenne München nicht anders als weltoffen und ich will es auch gar nicht anders erleben. Konservativ ist für mich kein Schimpfwort, wenn man sich allerdings gegen alles wendet, was ein bisschen links oder rechts von der eigenen Denkwelt ist, wenn man sich nur fokussiert auf eine vorgegebene Richtung oder Meinung, wenn man sich gegenüber modernen Themen verschließt, weil man ahnt, dass bestimmte Wählergruppen das nicht gut finden könnten, dann ist das rückständig. So würde ich Politik nicht machen wollen. 

Aber die Werte, über die wir gerade gesprochen haben, aufrecht zu erhalten, gleichzeitig eine Gesellschaft offen zu halten und Traditionen zu pflegen, ist für mich kein Widerspruch. Traditionen gehören zu Bayern und auch ich gehe auf´s Oktoberfest in der Lederhos´n. Das ist eben Tradition für einen Münchner Oberbürgermeister. Es ist halt nur lästig, dass man schon Wochen vorher auf die Kilos schauen muss, damit man noch hineinpasst. Denn das habe ich mir geschworen: es wird keine neue gekauft.

Als Abschluss unseres Gesprächs würden wir gerne von Ihnen einen ultimativen Musik-Tipp hören, also eine Band oder einen Song, der Ihnen besonders am Herzen liegt. 

Ich bin ein großer Fan von Mark Knopfler und den Dire Straits. Wir spielen auf unseren Konzerten immer „Walk of Life“, ein Song, den ich großartig finde. Ich liebe Mark Knopfler, finde seine Gitarrenkunst unübertroffen. 

Herzlichen Dank, Herr Oberbürgermeister für das Gespräch.

Danke Ihnen. 

Fotos: Wolf Heider-Sawall

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