Mein Vater, das Geburtstagskind.

Happy Birthday, Papa!
Mein Vater. Foto by Wolf Heider-Sawall
Mein Vater. Foto by Wolf Heider-Sawall.

Mein Vater, der Hl. Nikolaus und der 6. Dezember

Was haben mein Vater und der Hl. Nikolaus gemeinsam? Richtig: sie werden am gleichen Tag gefeiert. Bei dem einen würdigt man seine Heiligkeit und guten Taten, bei meinem Papa, dass er – trotz seines schweren Starts ins Leben – heute seinen 82. Geburtstag feiern darf. Und das ist keine Selbstverständlichkeit.

Das Leben meiner Eltern – Kriegskinder der Jahrgänge 1939 und 1941 – ist ein Leben voller Auf- und Umbrüche und wert erzählt zu werden. Mit ihrem Einverständnis habe ich begonnen, einige Geschichten aufzuschreiben. Heute möchte ich meinem Vater zum Ehrentag eine kleine Geschichte zur Freiheit veröffentlichen. Eine Geschichte von Sehnsucht nach Veränderung und dem Mut, sie zu wagen. Und natürlich jugendlicher Tollkühnheit. Seine geplante Flucht nach Italien…und wie sie endete.

Wunsch nach Veränderung

Nachdem mein Vater erfolgreich seine gymnasiale Karriere abgebrochen und endlich einen Lehrberuf angetreten hatte, um das erste heißersehnte eigene Geld zu verdienen, musste er bereits im ersten Lehrjahr feststellen, dass das Leben in dieser Form doch kein Zuckerschlecken war. Alles fühlte sich beschissen an, das Dorf, die Enge, die fehlende Perspektive und schrie nach einer drastischen Veränderung.  Ein Plan, ein neuer Lebensentwurf musste her und er sollte möglichst weit weg vom beschaulichen Bad Bocklet stattfinden. Mein Vater und sein bester Freund Bernd, seines Zeichens Friseurlehrling, beschlossen mit ihren fünfzehn Jahren, ein neues Leben zu beginnen und dafür erschien ihnen Italien der richtige Ort zu sein. Sie sahen sich auf blühenden Orangenplantagen harte, aber ehrliche Arbeit verrichten, absolute Freiheit unter der italienischen Sonne genießen, die ihnen natürlich nur wohlgesonnen auf den Pelz brennen würde. La dolce vita – sie konnten das neue Zeitalter schon fern der fränkischen Provinz riechen. Dass tatsächlich viele Italiener der Arbeitslosigkeit im eigenen Land entflohen und nach Deutschland kamen, war ihnen entgangen und sie hätten es vermutlich auch nicht geglaubt. Italien – das stand für das exotische und aufregende Leben fern der eigenen öden Heimat.

Die Flucht führt über Schwabing

Mein Vater nahm seinen besten Mantel mit, um ihn unterwegs gewinnbringend zu verkaufen. Geld hatten sie so gut wie keines, aber genügend Willen, das Leben zu einem Besseren zu wenden. Der Weg führte zuerst mit dem Fahrrad nach Bad Kissingen, von dort nahmen sie den Zug nach Schweinfurt, wo sie abends in einem Schrebergarten eine Hütte aufbrachen und übernachteten. Das Geld fürs Hotel wollte gespart sein. Am nächsten Tag liefen sie zur Autobahn und trampten nach München, dem deutschen Tor zu Italien. In München angekommen, suchten sie nach dem legendären Viertel Schwabing, von dem sie schon viel Verwegenes gehört hatten und marschierten dort in eine Kneipe, um sich Leberkäs mit Spiegelei servieren zu lassen. Weiter ging es wieder zur Autobahn in Richtung Österreich, jedes Mal wurden sie freundlich mitgenommen, denn die beiden versicherten glaubhaft, dass sie in ihrem wohlverdienten Urlaub als Lehrlinge die Fahrtkosten sparen wollten. So landeten sie schließlich am österreichischen Grenzübergang Freilassing. Ausweise hatten die beiden keine und so beschlossen sie, am Fluss Saalach eines der Boote aus den Verankerungen zu reißen und überzusetzen. Das allerdings bemerkten auch zwei aufmerksame Grenzpolizisten, welche die beiden kurzerhand mit auf die Wache nahmen. Der zuständige leitende Kommissär erkannte recht schnell, dass die beiden nicht auf Urlaubsreise waren, und tätigte ein paar Telefonate. Er kam zurück. „Wisst ihr zwei eigentlich, dass ihr schon im Rundfunk gesucht werdet?!“ Dass sich die Verwandten bereits seit drei Tagen große Sorgen machen könnten, kam den beiden nicht in den Sinn. Oder besser gesagt: es war ein nötiges Opfer auf dem Weg in die Freiheit. Diese endete an diesem Abend in einer österreichischen Zelle, an Allerheiligen, im November, ohne Heizung.

Eine eiskalte Zelle in Österreich

Die mitleidige Frau des Kommissärs hatte den beiden Burschen noch ein warmes Abendessen gemacht, aber die Strafe in der eiskalten Zelle musste sein. Da mein Vater und sein Freund regelmäßig zum Boxtraining gegangen waren, boxten sie die Nacht hindurch gegen ihre Schatten, um sich warm zu halten. Am nächsten Tag kam eine Cousine seines Freundes vorbei, welche sich gerade auf dem Weg nach Italien in die Flitterwochen befand. Sie und ihr Mann hatten die zwingende und ehrenvolle Aufgabe die fahnenflüchtigen Franken zurück in die Heimat zu befördern. Die Stimmung auf dem Weg zurück war denkbar frostig, den Honeymoonern stand nach allem der Sinn, aber definitiv nicht nach zwei pubertären Querulanten. 

Zuhause angekommen, waren sie das Dorfgespräch. Die Großmutter war außer sich vor Sorge gewesen, noch schlimmer allerdings war für sie das Gerede hinter ihrem Rücken. 

Der cholerische Lehrherr meines Vaters hingegen verlor kein Wort über den Ausbruchsversuch. Vielleicht zollte er ihm einen gewissen Respekt oder wäre selbst gerne weggelaufen aus seinem Leben…

Wenn schon nicht Italien, dann eben Rock´n´Roll

Zurück im Dorf suchten die beiden Burschen nach anderen Wegen, um ihrem Leben Glanz zu geben. So beschlossen sie, im 10 km entfernten Bad Kissingen einen Tanzkurs zu besuchen, in der Hoffnung auf hübsche Mädchen und eine flotte Sohle. Dort angekommen, lockten wiederum die Kneipen der dort stationierten amerikanischen Soldaten. Es wurde ihnen ohne großes Nachfragen Alkohol ausgeschenkt und sie konnten der aufregenden Musik der GI´s lauschen. Regelmäßig versetzten sie forthin ihre Tanzpartnerinnen, sogar beim Abschlussball zogen sie Rock´n´Roll den Mädchen und dem Foxtrott vor und setzten sich in ihren schicken Anzügen lieber an die Bar zu den GI´s. 

Die Karriere meines Vaters als Tapetenverkäufer sollte später eine unerwartete Wende nehmen. Er wurde Lehrer. Und flüchtete wieder. Allerdings nun verheiratet und mit Kind. Diesmal raus aus der Enge des Ruhrgebietes und rein in das wilde Leben der 70er Jahre in München. Aber davon soll an anderer Stelle die Rede sein.

Ein Tod und die Erinnerungen

Sein bester Freund Bernd wurde Friseurmeister, heiratete und eröffnete mit seiner Frau erfolgreich mehrere Salons. Allerdings verfiel er mehr und mehr dem Alkohol. Bei einem Kneipenbesuch fiel er rücklings vom Stuhl und auf den Hinterkopf. Der Sturz veränderte ihn völlig, er wurde hochaggressiv, erkannte kaum noch jemanden und wurde in eine geschlossene Klinik eingewiesen. Mein Vater wollte ihn noch einmal mit einem Cousin besuchen. „Er wird dich nicht erkennen.“, warnte ihn dieser. Sie wurden an Bernds Bett geführt, dort lag er – an allen Gliedmaßen fixiert – und giftete sie an. Er erkannte meinen Vater nicht. 

Der Cousin und mein Vater verließen das Krankenzimmer. Vor der der Klinik stehend, weinte er bitterlich um seinen besten Jungendfreund. Bernd starb kurze Zeit darauf und meinem Vater blieben nur lebendige Erinnerungen. 

Happy Birthday, Papa! Deine Geschichte zeigt: Mut bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Plan aufgeht. Aber Mut als Haltung überdauert und eröffnet neue Wege.

Die Flucht nacht Italien gelang zwar nicht, dafür gibt es ein Geburtstagsessen bei unserem Lieblingsitaliener. Danke für dein Vertrauen, deine Geschichten und all die Zeit, die wir miteinander verbringen dürfen.

Fotos by Wolf Heider-Sawall

Total
0
Shares
Comments 2
  1. Total schön und unpathetisch beschrieben, liebste Susanne!
    Happy Birthday deinem geliebten Vater und noch viele gute, gemeinsame Jahre in Gesundheit und bester Erhaltung!!
    Ich hatte ja die Ehre, deinen alten Herrn unlängst kurz persönlich begrüßen zu dürfen.
    Vielleicht lächelt er heute ja ein bisschen…
    Umarmung!
    Deine Madlon

    1. Liebste Madlon,
      ich freue mich sehr über deine warmen Worte und die lieben Glückwünsche für meinen Vater!Es war gut, dass wir ihm die Zeit ein bisschen leichter gemacht haben, er sorgt und kümmert sich so viel um meine Mutter. Und das italienische Restaurant hat ihn wieder hochleben lassen – mit lauter Musik, einer Wunderkerze und einem köstlichen Nachtisch! Bisous!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vor absenden des Formulars, akzeptieren Sie bitte die Datenschutzerklärung.

Prev
Immer ein Ziel vor Augen
Christian Greiner. CEO von Ludwig Beck

Immer ein Ziel vor Augen

Christian Greiner, CEO des Traditions-Kaufhauses Ludwig Beck im Gespräch

Next
Is´was, Doc?
Susanne Graue, Stadtlocke. Beim Doc.

Is´was, Doc?

Eine ärztliche Diagnose zu Krankheit und Nageldesign

You May Also Like