Die Kirschblüten kommen – und mit ihnen der Frühling
Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntermaßen das Leben – so sagt ein vielzitiertes Sprichwort. Dies gilt auch für die Kirschblüten im Münchner Olympiapark. Hier könnte man sogar sagen: Zwischen zu früh und zu spät liegt immer nur ein Augenblick… Einige Jahre waren wir zu spät und die Blüten hingen schon bräunlich im Baum. Also bemühten wir uns in Folgejahren rechtzeitig zu erscheinen, wobei uns die Natur lehrte, dass sie nach keinem starren Uhrwerk funktioniert, sondern sich jeder zarten oder rauen Nuance von Wind und Wetter anpasst. Bedeutet: Manchmal standen wir schlotternd auf dem Olympiaberg und die Kirschknospen verhießen baldige Blüte – aber bald ist dann eben nicht jetzt. Außer einer Ahnung einer Blüte war nichts zu sehen. Also zogen wir wieder von dannen, kehrten ein paar Tage später zurück und trafen auf rosafarbiges Glück. Oder vergaßen es und mussten auf das nächste Jahr warten.

Kimonos in Milbertshofen
Am vergangenen Sonntag zogen wir also wieder hoffnungsfroh in Richtung Kirschblüten – fröhlich begleitet von einem eisigen Wind, der uns eher an winterliche Eiszeit als frühlingshafte Temperaturen erinnerte. Der Weg führt uns entlang des Oberhofer Platzes, durch welchen in der Vergangenheit die Straßenbahn Nr. 13 führte. Die Stadt München war schlau, erhielt nach dem Bau der U-Bahn und der Einstellung der Linie 13 den Streifen und machte ihn zu einer kleinen, langgezogenen Oase, die in den Generationengarten Milbertshofen am Petuelpark mündet. Und genau dort trafen wir auf zwei fröhliche Picknickrunden in Kimonos. Während wir dick eingepackt mit Mantel und Schal uns dem Wind stellten, saßen dort zwei Runden in wunderschönen traditionellen Gewand und vermittelten unter der rosafarbenen Blütenpracht ein Gefühl von Leichtigkeit und Frühling. Im unserem multikulturellen Viertel Milbertshofen gehören verschiedenste Kulturen zum Stadtbild, schließlich ist es der Stadtteil Münchens mit dem höchsten Ausländeranteil – allerdings sind die feinsinnigen Japaner eher weniger anzutreffen. Milbertshofen ist ehrlich, direkt und laut- im Gespräch, im Handeln, im Streiten und auch im Freuen. Attribute, die man Japanern gemeinhin nicht zuordnen würde. Und so wirkte die ganze Szenerie unwirklich, fast surreal.

Sakura auf dem Olympiaberg – ein Event für alle.
Wir spazierten schlotternd weiter zum Münchner Olympiazentrum. Auf dem Weg dorthin wurde uns klar: Wir sind nicht die einzigen. Was mich auf den ersten Blick enorm störte – so wie mich auch im Urlaub alle anderen Touristen stören, weil ich nicht einsehen kann, dass auch sie in in der Ferne fernländisches Lebensgefühl genießen wollen (warum nicht zu einem anderen Zeitpunkt, herrgottnochmal?!). Das ferne Land soll dann ausschließlich mir und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern gehören. Aber auf mich hört ja keiner.
Meine leichte Verstimmung wich einer Freude – denn der Weg dorthin und seine Menschen wurden mit jedem Schritt bunter. Uns begegneten viele Muslime – festlich gekleidet, weil Ramadan vorbei und das Zuckerfest freudig erwartet und gefeiert wurde. Dann pilgerten viele Japaner mit ihren Großfamilien zu den Kirschblüten im Olympiapark. Dort angekommen, leuchteten aus der Menschenmenge immer wieder seltsam gekleidete Wesen hervor: Cosplayer.


Kreative Vielfalt
Ein Mensch wie ich, dem Kostümfeste, Motto-Events und Fasching der schiere Graus sind, kann auf den ersten Blick dem Cosplay rein gar nichts abgewinnen. Auf mich wirken die Kostüme marionettenhaft, fremd. Es stellt sich mir unter wunderschönen Kirschblüten die Frage, warum ich mich ein ein billig aussehendes Kostüm werfe, um eine Figur aus einer anderen Welt darzustellen? Und dann stellten Baby und ich fest: Sie tun niemanden etwas, haben Freude an dieser Wandlung und einen Weg gefunden, ihrer Realität kurz zu entfliehen und in eine andere einzutauchen. Neue Rollen einzunehmen, Persönlichkeiten anzunehmen, die ihnen vielleicht Kraft, Liebe und Schönheit verleihen. Während sie spielen, geschieht kein Unheil. Und niemandem tut es weh. Warum also nicht?!
Die Freude und der Stolz über die selbstkreierten Kostüme wurde von eigens engagierten Fotografen festgehalten. So wanderten also fremde Wesen mit spitzen Ohren, bauschigen Röcken und Plastikschwertern zwischen Großfamilien, verliebten Pärchen, bellenden Hunden und Händchen haltenden Senioren hin und her, suchten die perfekte Blüte und posierten.

Verwelken und Erblühen…
Irgendwann siegte der Wind über die Pracht der Kirschblüten und wir zogen heim. Zurück zur Picknickgesellschaft in Kimonos. Die Frauen stellten sich freundlicherweise für ein Foto zur Verfügung und Wolf war im Glück – was für ein Motiv. Nebenan riefen sich Jugendliche auf E-Rollern Unverständliches zu, beim TSV Milbertshofen fiel ein Tor und die Menge jubelte, auf dem Spielplatz rannten johlend Kinder um die Wette und auf einer Parkbank weinte in Mann bitterlich, während er den Kopf in den Schoß einer Frau legte.

Und während ich Wolf beim Fotografieren beobachtete, wie er charmant die Frauen bat, sich zu positionieren, einmal als Gruppe, dann nebeneinander, wie sie stolz ihre Kimonos präsentierten, dachte ich an meine Mutter, welche einen großen Sinn für die Fülle des Lebens hatte, in all ihren Erscheinungsformen. Sie hätte diesen Tag geliebt, weil er zeigte, wie kreativ und unterschiedlich Menschen in ihren Bedürfnissen, Freuden und eben auch im Schmerz sind. Mir liefen die Tränen.
Und während wir an dem schluchzenden Mann, den spielenden Kindern, den jubelnden Fußballfans vorbeigingen, dachte ich, dass dieser Fluß des Lebens ein großes Geschenk ist. Manchmal präsentiert er eine große Fülle an Blüten, mal verwelken sie und fallen sie ab – aber sie kommen immer wieder.

Fotos: Wolf Heider-Sawall